Warum bleibst du im Gefängnis, obwohl die Tür weit offen steht?
Ein Gastartikel von „Quintilia“
Wenn du wie ich auf dem Land lebst, weißt du das vielleicht: Wenn ein Stall brennt, haben die Helfer enorme Mühe damit, die Tiere aus den brennenden Stallgebäuden zu treiben, und zwar deshalb, weil diese sich mit allen Kräften dagegen sträuben! Gelingt es doch mit einem erheblichen Kraftaufwand, ein solches völlig verängstigtes Tier aus der Gefahrenzone zu manövrieren, hat man anschließend erhebliche Probleme, es am Zurücklaufen in den brennenden Stall zu hindern. Wie kommt das? Erkennen die Tiere die Gefahr nicht? Doch, das tun sie! Angst vor Feuer ist ihnen angeboren und natürlich nehmen sie auch die Hitze, den Geruch nach Rauch, die bedrohlichen Geräusche durch einstürzende Balken usw. wahr. Sie haben Todesangst und rennen doch direkt in ihren sicheren Tod zurück. Warum?
Weil der Tod ihre gewohnte Umgebung ist. Sie kennen ihn in- und auswendig und fühlen sich dort „zuhause“, auch wenn man als Mensch beim Anblick von Ställen durchaus seine Zweifel haben darf, wie ein Tier sich darin wohlfühlen könnte (aber letzteres ist ein anderes Thema – ich schweife ab!)
„Man soll Mensch und Tier nicht vergleichen, und doch kommt man manchmal nur schwer darum herum.“, sagte schon meine Oma immer. Nach langen Wochen der Kommunikation mit verzweifelten Frauen, die sich einfach nicht aus ihren hoch toxischen Beziehungen lösen können, ging es mir heute genauso Der Vergleich mit den Tieren und dem brennenden Stall ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf! Handeln wir Betroffenen, also diejenigen, die sich trotz eines riesigen Leidensdruckes aus einer schmerzvollen, dysfunktionalen Beziehung nicht lösen können, womöglich aus den gleichen Motiven wie diese verängstigten Tiere?
Wer in einer toxischen oder schmerzvollen Beziehung feststeckt, weil ihn die Liebessucht bzw. die emotionale Anhängigkeit voll und ganz im Griff hat, der sieht und spürt sehr wohl, dass „der Stall lichterloh brennt“. Der oder die Betroffene weiß längst, dass es nicht gut tut zu bleiben, er erkennt, wie wenig vom eigenen Leben, ja, von der eigenen Persönlichkeit noch übrig ist und er ist so am Ende, dass er nicht mehr kann. Ja, es kommt der Punkt in einer toxischen Beziehung, da kann man einfach nicht mehr. Man kann es nicht mehr aushalten, man will es nicht mehr aushalten – aber man kann auch nicht das scheinbar Naheliegendste tun: Den „brennenden Stall verlassen“ und sein Heil in der Flucht suchen!
Warum wir bleiben? – Ich denke, weil wir leider auch „Gewohnheitstiere“ sind!
Tauscht man sich aus, erfährt man: Viele Betroffene sind all das, was sie in einer toxischen Beziehung „geboten“ bekommen längst gewöhnt: Der vergebliche Kampf um Liebe, Anerkennung, Wertschätzung, Aufmerksamkeit und Respekt ist ihnen leider bestens vertraut. Ebenso gut kennen sie es womöglich, beschimpft, abgewertet, gedemütigt, beleidigt, betrogen, belogen, missbraucht, geschlagen….zu werden.
Sie kennen die Gefühle, die damit einhergehen. Sie sind zwar ebenso schmerzhaft, doch oft seit frühester Jugend altvertraut. Vielleicht haben sich Betroffene dadurch genug „Werkzeuge“, Taktiken und Überlebensstrategien zugelegt, wie man mit diesem bekannten Schmerz einigermaßen zurechtkommen kann.
Unterbewusst wirken alte Glaubenssätze wie „Liebe tut nun mal weh!“ oder „Du hast es nicht anders verdient!“ oder „Du bekommst sowieso keine(n) andere(n) ab!“ oder „Alleine kommst du nicht zurecht!“ oder „Ich muss dankbar für jede Art von Aufmerksamkeit sein, sogar für schlechte!“ – Das sind übrigens typische Glaubenssätze eines ungeliebten Kindes. Darüber habe ich *hier* schon einmal geschrieben.
Für Nicht-Betroffene völlig unverständlich: Denn die wissen, was Betroffene nicht (mehr) wissen oder glauben können: Alles „da draußen“ (außerhalb der Stall- bzw. Gefängnistür) kann nur besser sein als das, was in dieser Beziehung ausgehalten werden muss!
Als Betroffene war ich mir da nicht so sicher: „Das „da draußen“, das war mir völlig fremd (geworden) und machte mir daher unglaubliche Angst! Ich habe daher lieber das altbekannte Übel gewählt, als mich gelassen und zuversichtlich dem Ungewissen zu stellen. Mir fehlte meist die Selbstsicherheit, dass all das, was „da draußen“ auf mich zukommt, auch bewältigt werden kann. Es war für mich wie ein Sprung in unbekannte Gewässer: „Wer weiß, was da draußen alles lauern mag!? Was kommt auf mich zu und wie werde ich es bewältigen können? Habe ich dafür überhaupt das richtige Werkzeug in meinem Repertoire?“
Und was ist, wenn gar nichts (bzw. gar niemand) mehr kommt? – Für manche ist die Angst vor dem Alleinsein so viel größer als die negativen Gefühle in einer toxischen Beziehung. Wer sich immer nur vollständig fühlt, wenn er einen anderen Menschen an seiner Seite hat, für den ist das Single-Dasein ein Grauen. Wer seinen Selbstwert nur über das Interesse bzw. die „Liebe“ eines anderen Menschen definiert, für den ist selbst negative Aufmerksamkeit durch einen toxischen Partner besser als gar keine.
Vielleicht finden sich auch andere Betroffene in diesen Gedankengängen wieder?
Die Zeit, in der man plötzlich wieder völlig auf sich selbst zurückgeworfen ist, ist in der Tat nicht leicht. Wenn sich vorher alles um den „Kampf“ um die Beziehung, um die „Rettung“ eines Menschen gedreht hat, wenn das Leben voller Aufregung war, dann kommt einem die entstehende Leere erst einmal richtig gespenstisch vor.
Toxischer Liebeskummer ist unglaublich grausam, weil er sich nicht nur auf die Trennung vom aktuellen Partner bezieht, sonder weil er jede einzelne Wunde, den die Seele jemals genommen hat, wieder aufzureißen scheint.
Die Trennung von einem toxischen Partner fühlt sich an wie kalter Entzug, wie der Kater nach dem schlimmsten Vollrausch, den man haben kann: Grausam! Existentiell! Schier unerträglich!
Es ist, als ob man beim Durchschreiten der brennenden Stalltüre unweigerlich mit den Flammen in Berührung kommen müsste, als wenn einem die Balken auf den Kopf fallen – und trotzdem:
Das Gute daran ist: ES hört tatsächlich auf!
Wenn du dich nicht beirren lässt, wenn du bereit bist, diesen unvermeidlichen Schmerz erst einmal in Kauf zu nehmen, wenn du all deinen Mut zusammen nimmst und Fuß vor Fuß in die richtige Richtung setzt, dann stehst du plötzlich auf der anderen Seite der Stall- bzw. Gefängnistür und bist frei!
Würdest du jemandem raten, im brennenden Haus zu bleiben, nur weil er sich beim Verlassen eventuell noch die eine oder andere Blessur zuziehen könnte? Wohl nicht, denn was wäre die Alternative? Der sichere Untergang! Lieber mit einigen Schrammen davonkommen, als im Feuer umkommen, so würdest du denken.
Und so ähnlich ist es auch!
Nur zwei Dinge sollte meiner Erfahrung nach ein(e) Betroffene(r) niemals tun:
Erstens: Dreh dich auf deinem Weg in die Freiheit nicht mehr nach dem brennenden Stall um! Zweifle nicht daran, ob das Feuer tatsächlich so heiß und die Situation so unerträglich war, wie du es in Erinnerung hast. und lass dir vor allem von deinem „Tox“ nicht einreden, das Feuer sei gelöscht oder werde mit deiner Hilfe noch gelöscht werden können.
Zweitens: Komm auf deinem Weg in die Freiheit nicht in die Versuchung, in den nächstbesten Stall zu laufen, in der Hoffnung, der wird schon nicht auch gleich in Flammen aufgehen!
Was ich damit meine: Such dir nicht gleich den nächsten Partner! Wenn du emotionale Abhängigkeit oder Liebessucht an dir entdeckt hast, solltest du dich erst einmal in Ruhe damit auseinander setzen. Du würdest einem Alkoholiker, der in der Vergangenheit heftig dem Bier zugesprochen hat, ja auch nicht raten: „Lass das Bier lieber weg, das schadet dir! Trinke ab sofort besser Wein.“
Wenn du, so wie ich, baufällige, zugige Ställe nämlich gewohnt bist und dich dort „zuhause“ fühlst, obwohl dir jederzeit ein brennender Balken auf den Kopf fallen könnte, dann wirst du dir womöglich gleich wieder einen solchen Stall suchen, statt eines wohnlichen, in dem du dich tatsächlich sicher fühlen kannst!
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Bis bald!
Eure Quintilia
Bildquelle: Pixabay